Warum ich manchmal Schuldgefühle beim Reisen habe und was ich dann tue
Als ich zum ersten Mal nach Kenia kam, fühlte ich etwas, das sogar einen Namen hat: White Guilt. Weiße Schuld. Ich fühlte mich schuldig dafür, dass ich in einem privilegierten Land wie Deutschland geboren worden war. Ich fragte mich, warum ausgerechnet ich dieses Glück hatte, in die Arme deutscher Eltern geboren zu werden in einem deutschen Krankenhaus, mit Elektrizität und Versicherungen und Autobahnen und gutem Zugang zu Bildung.
Hätte nicht jemand anders, der nun in einem Slum in Nairobi wohnt oder in einem Lehmhaus auf dem Land, anstatt meiner dort landen können? Wie unfair, dass ich all diese Privilegien hatte und jemand anders auf der anderen Seite des Äquators hatte sie nicht!
Und all das Zeug, das wir zu Hause hatten!
Badewannen und Klopapierhalter und mehr Handtücher und Teller als Haushaltsmitglieder. Ein Auto, Dosenfutter für den Hund und Leckerli für die Meerschweinchen, Ziegeldächer und iPads und sieben verschiedene Sorten Milch. Und all das Geld und den Zugang dazu und die Möglichkeiten, diesen ganzen Kram zu kaufen.
Und dann der ganze Mist, den mein Land und mein Kontinent dem afrikanischen Kontinent und Kenia angetan hatte:
Missionierungen, koloniale Expeditionen, wirtschaftliche Ausbeutung, geografische Fragmentierung. Und was sie ihnen nach wie vor antaten: Ausbeutung von Ressourcen und Arbeitskraft, Marginalisierung, Stigmatisierung, Einflussnahme und die Anmaßung moralischer, finanzieller und sozialer Maßstabsetzung…
Ich war mittendrin. Ich war eindeutig bei den Bösen! Darum fühlte ich mich schuldig. Das erdrückte mich fast und ich fühlte mich machtlos und traurig und wütend.
Es ist offensichtlich, dass Schuldgefühle keine Lösung sind.
Ich reflektierte, ich interagierte, ich studierte. Viele Jahre später habe ich nun diese Schuldgefühle fast ganz überwunden. Ich habe gemerkt, dass es nicht ausschließlich meine Schuld ist. Heute bin ich sehr froh darüber, in einem Land geboren zu sein, das mir die Möglichkeit und – ja – auch das Privileg bietet, diese Erfahrungen machen zu dürfen. So kann ich von ihnen lernen und aktiv werden.
Ich habe meine Schuld in meine persönliche Verantwortung und eine besondere Achtsamkeit verwandelt. Heute reise ich verantwortungsvoll und respektvoll. So wurde über Kurz oder Lang auch Mind Set Travel geboren.
Wenn auch du diese “white guilt” verspürst, kannst du Folgendes tun:
1. Nimm das Gefühl war.
Stempel es nicht zu schnell als Heimweh oder Kulturschock ab, oder die Nebeneffekte der Malaria-Prophylaxe. Dies hier ist was anderes. Wenn du dich schlecht fühlst aufgrund deiner Herkunft, akzeptiere dieses Gefühl und untersuche es.
2. Untersuche, worüber du wirklich traurig oder wütend bist.
Du kannst darüber nachdenken, oder vielleicht in deinem Reisetagebuch darüber schreiben. Sind diese Punkte umfassend, irgendwie generell? Oder hast du konkrete Beispiele?
Findest du es zum Beispiel unfair, dass du ein Visum für Kenia einfach bei deiner Landung am Flughafen bekommst, deine kenianische Freundin es jedoch sehr schwer haben wird, ein deutsches Visum zu bekommen?
Findest du es generell traurig, wie im Fernsehen über Asien berichtet wird? Oder fühlst du einfach blanke Scham dafür, was Native Americans oder Australian Natives angetan wurde?
3. Betrachte diese wunden Punkte und untersuche, auf welche du Einfluss hast und welche jenseits deiner Einflussnahme liegen.
Du kannst geschichtliche Ereignisse nicht ungeschehen machen. Doch du kannst darüber lesen und recherchieren, auch wenn das erst nach deiner Rückkehr nach Hause ist.
Vielleicht merkst du aber zum Beispiel, dass Kleiderspenden aus deiner Heimat die lokale Textilindustrie zerstören. Hier hast du die Möglichkeit, deine Kleiderspenden einzustellen und andere darüber aufzuklären.
4. Doch bevor du dir einen erhobenen Zeigefinger aneignest: halte kurz inne!
Schreib nicht gleich eine Rundmail oder einen Facebook-Post im Rausch deiner aufgewühlten Emotionen. Versuche, mit anderen Leuten in ähnlichen Situationen ins Gespräch zu kommen. Sprich zuerst mit den Menschen in deiner Umgebung, deinen Gastgebern, anderen Reisenden oder Freiwilligen, vielleicht einer Organisation oder dem Hotelpersonal.
Sammle andere Ansichten und neue Perspektiven. Gewinne Klarheit und passe deine Emotionen an. Erweitere deine Sichtweise und informiere dich.
5. Lass das Schuldgefühl über Dinge los, die du nicht beeinflussen kannst. Unternehme etwas in Bezug auf eine Sache, die du wirklich beeinflussen und ändern könntest.
Mach das nicht, um dein Gewissen zu beruhigen. Im besten Fall wird es sich nicht beruhigen lassen. Unternimm etwas, weil du merkst, dass du Verantwortung hast und nutzen kannst.
Akzeptiere, dass du nicht die Welt ändern wirst. Doch du kannst dich in ihr bewegen, auf achtsame und verantwortungsbewusste Art und Weise. Indem du Erkenntnis gewinnst und Erfahrungen teilst.
Wie gehst du mit solchen unangenehmen Gefühlen um? Hast du dich auf Reisen schon mal schuldig gefühlt? Teile deine Erfahrungen unten in den Kommentaren.
Bei den Ressourcen findest du Vorschläge zum Ausdrucken, um dir noch mehr Gedanken zu machen.
4 Gedanken zu “Wenn du dich schuldig fühlst, tu dies”
Hallo Laura,
dass unsere gutgemeinten Kleiderspenden die Entwicklung der lokalen Textilindustrie hemmen, ist ein interessanter Faktor, der vielen Menschen vermutlich nicht einmal bewusst ist. Warum erörterst Du das Thema nicht etwas ausführlicher in einem eigenen Beitrag?
Lg Kasia
Liebe Kasia,
Danke für das Input! Ich kenne mich mit den Einzelheiten nicht gut genug aus und es geht mir hier ja auch mehr ums Reisen. Aber mein Konsumverhalten hat sich schon drastisch geändert, seit ich mich mit der Thematik beschäftige. Empfehlen kann ich zu diesem Thema das Video “The Story of Stuff” sowie die Geschichte aus dem Buch “The Blue Sweater”.
Alles Liebe!
Liebe Laura,
ein toller Artikel, der mir Gänsehaut bereitet. Genauso ergeht es mir oft hier in Togo. Welches Glück und welche Privilegien wir haben, einfach nur dadurch in Deutschland geboren zu sein, ist mir nie so bewusst geworden wie während meiner Zeit hier in Westafrika. Achtsam reisen ist ein guter Ansatz, und auch die ein oder andere eigene Verhaltensweise zu überdenken. Welchen Konsum brauchen wir wirklich? Welchen Schaden richten wir vielleicht mit unbewussten (gut gemeinten) handeln an? Wie können wir nachhaltiger Reisen? Gerechter?
Danke für deine Tipps und deine Einsichten auf deinem Blog!
Liebe Grüße
Britta von traveloskop.de
Liebe Britta,
Das freut mich! Manchmal denke ich, es ist schade, dass wir erst durch so weite Reisen unser Konsumverhalten und unseren Lebensstil überdenken. Eigentlich sollte uns das doch schon vorher aufgefallen sein. Aber deswegen schreiben wir ja, damit andere mitlesen und inspiriert werden.
Alles Liebe!